21. Alpenländischer Volksmusikwettbewerb in Innsbruck: Alles ist Musik!

Alle reden von der sogenannten Parallelgesellschaft. Ich plädiere hingegen dafür, dass dieser Wort im Plural benutzt wird und somit zu Parallelgesellschaften wird. Ich frage mich jedenfalls wie es sein kann, dass es seit 1974 alle zwei Jahre der größte überregionale Musikwettbewerb für Alpenländische Volksmusik in Innsbruck stattfindet und ich in diesem Jahr zum ersten Mal davon höre? Es liegt jedenfalls nicht am Tiroler Volksmusikverein, der diese Veranstaltung organisiert, sondern an mir. Ich habe bis dahin einfach in einer anderen Welt gelebt. In einer sogenannten Parallelgesellschaft.

Mir ist schon bewusst, dass der Begriff Parallelgesellschaft meist in einem anderen Kontext verwendet wird und vor allem die Haltung von Migranten beschreibt, die sich als Minderheit nicht an die Mehrheit anpassen und in den kulturellen Mainstream eingliedern möchten. Ich finde aber, dass dieser Begriff aber auch sehr gut zur Situation passt, die ich immer wieder erlebe: Ich erfahre von hochkarätigen Veranstaltungen und frage mich, wie ich in den letzten Jahren so ignorant sein konnte, diese schlichtweg zu übersehen. Ganz einfach weil ich mich gerade in völlig anderen kulturellen und sozialen Kontexten aufgehalten habe.

Der Alpenländische Volksmusikwettbewerb in Innsbruck: Alles ist Musik!

Ich habe mich an anderer Stelle in einem anderen Beitrag schon gefragt, wie es wäre, wenn wir das leidige Szene-Denken endlich wegbekommen würden. Wie es wäre, wenn wir uns leichtfüßig durch die Szenen, Musikstile, sozialen, intellektuellen und kulturelle Kontexte und Zusammenhänge bewegen würden. Wenn wir ebenso selbstverständlich zu einem Drone-Konzert in die Innsbrucker P.M.K. wie wir diese Woche zum 21. Alpenländischen Volksmusikwettbewerb gingen.

Die Probe aufs Exempel macht jedenfalls eine etwas bedauerliche Realität sichtbar: Ich bin überzeugt, dass es zwischen diesen „Szenen“ keinerlei Überschneidungspunkte gibt. Wer Tags zuvor Sunn o))) gehört hat, der wird sich am nächsten Tag nicht die Stubaier Freitagsmusig anhören.

Warum das so ist? Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Ich kann es mir nur damit erklären, dass Musik eben auch Zugehörigkeiten erzeugt und in sozialen und gesellschaftlichen Kontext rezipiert wird, die sich nicht beliebig durcheinander würfeln lassen. Der Versuch in Tracht zu einem Noise-Konzert zu gehen würde wohl ebenso scheitern wie der Versuch in einem Slayer T-Shirt bei einer Veranstaltung wie den Innsbrucker Promenadenkonzerten nicht etwas schief angesehen zu werden.

Als Mensch, der einiges mit Jazz anfangen kann und vor allem die Aussage „It´s All Jazz“ frei ausgelegt, verstehe ich solche Undurchlässigkeiten nicht. Es ist zwar nicht alles Jazz, aber alles ist Material, ist Musik, ist eine Eröffnung eines Möglichkeitsraums. Gehen wir davon aus, ich wäre ein großartiger Komponist (was ich leider nicht bin) und gehen wir davon aus, ich würde mich nur auf die eigenen Überlieferungsstränge konzentrieren, nur auf das Eigene. Nur auf die Musik, die meiner Musik vorangegangen war und die ähnlich klingt, wie dann meine Musik auch klingt.

Würde so gute Musik entstehen? Ich denke nicht. Ich würde doch eher begierig alles was an Musik um mich herum passiert aufsaugen, für mich vereinnahmen und es zu etwas Neuem, Einzigartigem formen. Es ist nicht alles Jazz. Aber alles ist ein Möglichkeitsraum, von dem ausgehend ich meine Ideen weiterspinnen und weiterentwickeln kann.

Ähnlich verhält es sich für mich als Hörer: Beschränke ich mich nur auf meine kleine Mini-Nische, in der ich mich bequem eingerichtet habe oder öffne ich mich für alles, was an qualitativ hochwertig und gelungener Musik um mich herum nur darauf wartet, gehört zu werden? Ähnlich wie ein Komponist, der sich in vielen musikalischen Welten und Gesellschaften aufhält, beginne ich anders zu hören und anders wahrzunehmen.

Volksmusik? „Neue Musik“? Alles in Innsbruck prinzipiell möglich

Ich kann die traditionelle Volksmusik mit meinem Wissen in Bezug auf „Neue Musik“ beleuchten und umgekehrt. Eines ist dabei gewiss: Ich werde nicht mehr die gleiche Musik hören. Sondern ich werde Verbindungen, Verknüpfungen und Differenzierungen beim jeweiligen Hören anders und intensiver wahrnehmen.

Ich stelle mir die Kultur als ein Netzwerk vor, in dem viele Verbindungen, Verknüpfungen und Anknüpfungspunkte erst sichtbar werden, wenn man sich intensiv mit viele Musikrichtungen und ästhetischen Konzepten beschäftigt. Sonst lebt man in der oben beschriebenen Parallelgesellschaft und bekommt nicht viel mit, was sonst noch um einen herum passiert. Man versinkt in Selbstbezüglichkeit und in Gemütlichkeit. Die eigene Szene und die eigene Musik ist dann die einzig wahre, schöne und gute. Die Folge: Stillstand als Musiker und Stillstand auch als Hörer.

Umberto Eco unterscheidet zwischen dem semantischen und dem semiotischen Leser. Ersterer folgt der Geschichten und Erzählungen und tappt in die Fallen, die der Autor geschickt auslegt. Der semiotische Leser hingegen kennt die Mechanismen und die Funktionsweise der Literatur und weiß, wie solche Fallen funktionieren und kann beschreiben, warum der Leser auf diese hereinfällt. Sprich: er kennt die Kunstgriffe, mit denen Wirkung erzeugt wird. Ich bin der Meinung, dass es auch den semiotischen Hörer gibt: er kennt die Wirkungsweisen von Musik und hat ein möglichst differenziertes musikalisches Vokabular.

In dieser Hinsicht bin ich der festen Überzeugung, dass der Besuch des Alpenländischen Volksmusikwettbewerbs in Innsbruck, der diesen Donnerstag (also schon in zwei Tagen!) startet, wichtig ist. Weil alle Vorurteile in Sachen Volksmusik abgelegt werden müssen. Weil ich mir eine freie und ästhetisch offene Gesellschaft als eine vorstelle, der alles zum musikalischen Material wird, auf das man zugreifen kann und das gehört werden sollte. Weil es keine musikalischen Grenzen mehr geben sollte.

Ein Gespräch gestern mochte mir jedenfalls bewusst, dass Innsbruck in musikalischer Hinsicht keine Provinz-Stadt war. Vielleicht geworden ist, aber dennoch aus einer reichhaltigen Musikgeschichte schöpfen kann oder schöpfen könnte. Sei es Volksmusik, sei es Barock-Musik. Innsbruck könnte eine Weltstadt sein. Wenn sie aus dem Vollen der musikalischen Möglichkeiten schöpfen würde und ihre eigene Geschichte musikalisch aufarbeiten würde. Ich habe das Gefühl, dass das vom Alpenländischen Volksmusikwettbewerb in gewisser Weise auch geleistet und die Frage gestellt wird, wie wir mit den eigenen Wurzeln umgehen.

Das ist entscheidend, um die musikalischen und ästhetischen Zusammenhänge zu verstehen und richtig interpretieren zu können. Wir sind zugleich in der Region und in der Welt zuhause. Am Ende steht dann der Genuss, die erweiterten Hörgewohnheiten, die nicht mehr selbstbezüglich sind. Aus meiner Sich beginnt dann erst das richtige Hören, wenn man die Analyse hinter sich gelassen hat. Bis dahin mag es „Arbeit“ sein. Das freie, unbeschränkte Hören danach ist aber pure Lust. Und die „Arbeit“ hat sich gelohnt.

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Von in Tirol