Karwendelmarsch – Ich bin der Welt abhanden gekommen

Der Bergsteiger und Bergwanderer oder der Tiroler Umgangssprache folgend einfach Berggeher, ist ein umtriebiges Wesen, das meistens eine ganze Reihe von unerfüllten Zielen, Touren oder Gipfeln hat. Ohne mich in eine der genannten Kategorien klar einstufen zu wollen, habe auch ich so eine Liste. Ganz oben stand bis vor Kurzem der Karwendelmarsch. Diesen Wunsch habe ich mir nun erfüllt und habe nicht nur ein naturnahes, sportliches Erlebnis bekommen, sondern etwas, dass ich so nie erwartet hätte.

Eine Definition

Wenn man wie in heutigen Zeiten üblich für den ersten Überblick zu jedem Thema die allwissende Suchmaschine kontaktiert, scheint es nur einen Karwendelmarsch zu geben. Dieser ist ein sportlicher Wettkampf und findet heuer am 30. August zum sechsten Mal statt. Die Strecke, die sich von Scharnitz bis Pertisau am Achensee zieht, hat 52 Kilometer und wurde letztes Jahr vom Sieger in weniger als 4 ½ Stunden bewältigt. Mir wurde schnell klar, dass dies sicher der namhafteste und sicher nicht mein Karwendelmarsch ist. Die Idee zu einer mehrtägigen Wanderung durch das Karwendel hatte ich nämlich von meinem Vater. Er war irgendwann Anfang der siebziger Jahre diese Strecke gegangen, allerdings in mehren Tagen und lange bevor es einen Wettkampf gab. Ob man dies nun als Karwendelmarsch bezeichnet weiß ich nicht, doch ist es für mich der Karwendelmarsch, den ich immer machen wollte.

Heuer war es schlussendlich so weit. Nach einigen Tagen Planung und verschiedenen Ideen über die genaue Route, die man sich mithilfe einer Wanderkarte und einer kurzen Recherche in Wanderführern sehr individuell zusammenstellen kann, war alles klar. Der Start der Tour war in Scharnitz, das Ziel sollte die Wolfsklamm bei Stans sein. Geplant waren zwei Übernachtungen: die Erste im Karwendelhaus und die Zweite in der Falkenhütte. Eine kurze unkomplizierte Reservierung per E-Mail bzw. Telefon in den beiden Hütten und schon konnten wir (mein Bruder und ich) losgehen.

Ganz nah und doch ganz fern

Ohne große Besonderheiten starteten wir unsere Wanderung, unterhielten uns über dies und das, kamen flott voran und machten nach ca. 2 Stunden, bei strahlend blauem Himmel eine Pause im Schatten. Ich zückte mein Smartphone, um einige Fotos zu schießen und bemerkte, dass ich kein Netz hatte. Auch kein Fremdnetz oder die Möglichkeit einen Notruf abzugeben. Wir scherzten ein bisschen über die Sinnhaftigkeit eines Handys am Berg ohne Verbindung und gingen weiter. Immer wieder kontrollierte ich mein Handy und musste feststellen es gab kein Netz. Irgendwann war es mir egal, das Handy blieb in der Tasche und ich wartete auf das Karwendelhaus. Es liegt erhöht auf einem Plateau und ich war mir sicher, dort gibt es eine Verbindung zur Außenwelt.
Als wir das Karwendelhaus erreichten, meldeten wir uns an, bezogen unsere Betten, duschten unglaublich kalt, da es kein Warmwasser mehr gab, setzten uns vor die Hütte in die Sonne und tranken ein Bier. Der Blick war wunderbar, das Bier erfrischte herrlich und ich sah auf mein Handy. Es gab kein Netz. Bei genauerem Hinsehen fiel mir auf, dass fast jeder Neuankömmling sein Handy kontrollierte und wie ich seine Verbindung zur Außenwelt verloren hatte. Resignatives Kopfschütteln war meistens die Reaktion.

Dann kam in mir etwas auf, am Besten zu vergleichen mit einer unglaublichen Erleichterung. Ich bin nicht erreichbar und ich kann keinen Einfluss darauf ausüben. Natürlich schaltet man sein Handy im Urlaub ab und an aus, doch jederzeit kann man es einschalten. Hat wer angerufen, habe ich WLAN, kann ich meine E-Mails checken. Ganz weg ist man nie, weder am Strand in Italien noch auf einer thailändischen Insel. Doch hier, 5 Stunden von Innsbruck entfernt (und davon vier zu Fuß) gibt es keine Verbindung. Ich hatte das erste Mal seit Langem das Gefühl wirklich weg zu sein, aus der Welt. Bevor wir uns in die Gaststube setzten, fragte ich doch noch nach, ob es denn möglich sei zu telefonieren. Ich wurde auf einen roten Kreis vor der Hütte verwiesen. Und tatsächlich, dort gab es nach längerem Warten ein bisschen Empfang. Später fragte ich den Wirt, wie er auf diesen Punkt gekommen sei, ob er mit seinem Handy stundenlang alles abgegangen ist, bis er diese Stelle entdeckt hatte. Alles ganz anders, bekam ich zur Antwort, vor dem Haus gibt es ein schwaches Signal, welches er mit einem Verstärker auf diesen Punkt strahlt.
Der weitere Abend verlief sehr geruhsam. Wir saßen in der Hütte, aßen ein Bergsteigeressen, spielten Karten und gingen früh zu Bett.

Das Wetter hat seinen eigenen Reiz

Am nächsten Morgen schüttete es wie aus Kübeln. Doch glücklicherweise blieb unsere Stimmung gut. Das schlechte Wetter bot einerseits die wunderbare Möglichkeit unsere Outdoorbekleidung zu testen, andererseits endgültig der Welt abhandenzukommen. Wir stapften stundenlang durch Regen und Wolken, machten Pause unter dem schmalen Vordach einer Hütte, mit Blick auf das von Nebelschleiern durchzogene Tal und sahen die ersten schwarzen Molche (Alpensalamander) unseres Lebens. Das schlechte Wetter verhinderte die erhoffte Besteigung der Birkkarspitze, doch gingen wir auf den Mahnkopf, ein grasbewachsener Gipfel nahe der Falkenhütte. Die Wege waren zu kleinen Bächen geworden, die Molche schienen begeistert zu sein und kamen dutzendfach aus ihren Verstecken. Klatschnass kehrten wir schließlich auf der Falkenhütte ein. Die Kleidung hielt, was sie versprach, doch in unseren Schuhen stand das Wasser. Die Gore Tex Isolierung hilft nur begrenzt, wenn der Weg zum Bach wird und das Wasser von oben in den Schuh rinnt.

Doch zurück zur Falkenhütte: Ihr großer Reiz liegt in ihrem urigen Ambiente, den Holzschindeln, die das Dach und die Außenwände zieren und ihrer einzigartigen Lage verbunden mit der spektakulären Bergkulisse. Ihr Manko liegt in ihrer geringen Möglichkeit, seine Kleidung zu trocknen. Ich kann nicht genau sagen, wie viele Wanderer an diesem Abend auf der Falkenhütte übernachteten, doch zwischen 70 und 100 werden es gewesen sein, allesamt mit nassen Schuhen und großteils nasser Kleidung.

So unangenehm die Nassen Sachen und die Ungewissheit, ob ihrer Trocknung waren, so heiter verlief der Abend in der Gaststube. Beim Blick aus dem Fenster sah man die wolkenbehangenen Berge, am Kachelofen sah man Berge von Kleidung und das Bergsteigeressen war ein Berg Wurstnudeln. Wir waren inzwischen mit einigen Herren an unserem Tisch ins Gespräch gekommen. Die Themen, über die man sich unterhielt, waren für Hüttengespräche wahrscheinlich normal, für mich und meine „aus der Welt“ Stimmung eine echte Bereicherung. Wo war man schon, welche Berge haben welchen Reiz, wo führt die jeweilige Tour hin, wie wird das Wetter und vor allem, wird alles trocken?

Eigentlich wieder da – aber…

Der nächste Morgen brachte die Gewissheit, dass die Schuhe die Nacht hindurch ihre Feuchtigkeit gehalten hatten und das Wetter eher wolkig als heiter war. Kurzfristig kürzten wir den Streckenverlauf ab und gingen in die Eng, statt nach Stans zur Wolfsklamm. Als die ersten Häuser des Almdorfes Eng sichtbar wurden, bimmelte plötzlich mein Handy. Einige versäumte Anrufe, einige SMS und ein Anruf aus der Arbeit, erreichten mich. Die Realität war wieder da und ich in der vorherigen Außenwelt angekommen. Trotzdem stellte sich mir die Frage: soll ich abheben oder noch ein bisschen weg bleiben?

Karwendelmarsch – Ich bin der Welt abhanden gekommen
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Von in Tirol