Mehr als nur eine Nachspeise: Die Desserts von Martin Sieberer in Ischgl

Ja, es ist wohl wahr. Ich persönlich habe es nie wirklich verstanden, da ich es fast immer mit den Vorlieben meiner Kinder halte: Die Nachspeise ist das Eigentliche. Zumindest aber ganz und gar nicht unwichtig und im besten Fall der krönende, meist süße Abschluss eines hervorragenden Menüs. Der Restaurant-Kritiker und Gourmet Christoph Wagner bezeichnete das Dessert gar einmal als „jüngstes Gericht“. Wie steht es also um das Dessert und was hat das alles mit Martin Sieberer zu tun, der in der „Paznaunerstube“ in Ischgl kocht? All das erfahrt ihr in den nächsten Absätzen.

Mir persönlich war es bisher eigentlich nicht bewusst gewesen, dass sich das Dessert in der Krise befindet. Und das nicht etwa, weil es zu lieblos zubereitet würde, sondern weil die oft liebevolle Arbeit der Zubereitung nicht hoch genug eingeschätzt wird und manchmal auch die Nachspeise kurzerhand einfach abbestellt wird. Aus welchen Gründen auch immer, vermutlich ist aber auch der Gedanken daran schuld, dass die Nachspeise zu süß und man eigentlich eh schon satt ist und somit beim Nicht-Essen der Nachspeise ein paar Kalorien sparen kann. Für mich eine sehr merkwürdige Haltung, zumal das Dessert ja eine lange Tradition hat und die Abfolge der Speisen kulturell geprägt ist.

Soll heißen: Die Abfolge der Speisen ist auch Ausdruck einer Kultur und einer Tradition, die sich über die Jahrhunderte in unseren Breitengraden gefestigt und etabliert hat. Die Abfolge und die Zuspitzung hin auf die Nachspeise ist also keine Selbstverständlichkeit oder gar ein universeller Wert, den man weltweit teilt. Wir sollten uns also bewusst sein, dass Essen Kultur ist und die Abfolge und Chronologie bei einem Menü Ausdruck einer Kultur- und Traditionspflege ist. Wer die Nachspeise abbestellt und also auf sie verzichtet, der begeht, mehr oder weniger bewusst aber definitiv, einen Traditionsbruch. Der bricht nicht nur mit Konventionen, sondern der bricht auch mit einer sich über lange Zeit gefestigten Kultur des Desserts.

Eine Abbestellung ist daher eigentlich nicht nur eine Abbestellung, sondern eine bewusste Handlung, die eine Veränderung herbeiführt und letztlich zu einer Krise des Desserts führen könnte, die mir bisher in dieser Schärfe gar nicht bewusst war. Offenbar ist es aber zumindest denkbar, dass statt einer raffinierten, ausgetüftelten und originellen Nachspeise ganz einfach eine Praline oder ähnliches verzehrt wird. Ganz einfach weil die Funktion hier auch erfüllt wird, etwas Süßes als Abschluss gegessen zu haben. Persönlich empfinde ich das als Affront gegenüber dem Küchenchef, der sich die Arbeit angetan hat um mit dem Dessert, nachdem es eben das letzte Gericht der Chronologie ist, besonders in Erinnerung bleiben zu wollen.

Wie schaut die Zukunft des Desserts aus? In Ischgl bekommt man darauf mögliche Antworten…

Vielleicht liegt es aber auch am Dessert selbst? Die Wirkung ist jedenfalls unter Umständen reziprok: Indem die Nachspeise manchmal abbestellt wird, gibt man sich auch in der Zubereitung immer weniger Mühe. Eine Wechselwirkung, die unter Umständen fatal ausgehen könnte. Zum Glück gibt es aber Orte, an denen von dieser heraufbeschworenen Krise, die ja auch gar nicht wirklich eintreffen muss, keine Rede sein kann. Das sind Orte und Restaurants, an denen man nichts davon wahrnimmt, das Desserts zunehmend abbestellt werden.

Ganz im Gegenteil. In der „Paznaunerstube“ in Ischgl unter Martin Sieberer wird der Nachspeise die Relevanz und die Wertigkeit zugestanden, die sie nun einmal verdient hat. Das bedeutet aber auch, dass über die Besonderheiten des Desserts nachgedacht wird. Die Desserts hier in Ischgl bewegen sich irgendwo zwischen sinnvollem Festhalten an Konventionen und Traditionen und sinnvollen und notwendigen Neuerungen. Martin Sieberer läuft weder den Trends hinterher noch setzt er auf pure Tradition.

In einem Interview mit der Presse merkt Martin Sieberer an, dass man vorsichtig sein müsse, denn bei Süßem gehe eben nicht alles. Vor allem glaubt er, dass man Gemüse nicht blindlings einsetzen solle, sondern sich fragen müsse, welches Gemüse eine natürliche Süße habe. Denn nur dann funktioniert eben das, was ich vorhin als eine Art von „Traditionsbewahrung“ beschrieben habe. Wenn Martin Sieberer hier zur Vorsicht anhält, dann auch, weil er weiß, auf welchen Grundlagen ein richtig gutes Dessert fußt und welche geschmacklichen Vorlieben und kulturellen Prägungen der Feinschmecker in unseren Breitengraden hat.

Martin Sieberer ist dabei weder konservativer Bewahrer noch radikaler Erneuerer. Bei den Desserts, für die er übrigens eng mit dem Patissier Peter Fankhauser zusammenarbeitet, geht er den Weg der geschmacklichen Differenzierung und der dezenten und sinnvollen Erweiterung der kulinarischen Möglichkeiten. Sieberer glaubt, dass man vor allem noch differenzierter mit Gewürz-, Schokolade und Kaffeearomen umgehen und arbeiten könnte. Martin Sieberer macht sich Gedanken und überlegt sich, wie das Desserts sinnvoll weiterentwickelt und verfeinert werden könnte. Nicht umsonst hat er auch einige Publikationen zu bieten, die sich explizit mit dieser Fragestellung beschäftigen.

Kurz gesagt: Ihr solltet euch wirklich mal die geschmackliche Vielfalt in der „Paznaunerstube“ in Ischgl gönnen. Wer nach einer solchem Dessert dann immer noch glaubt, dass Desserts eigentlich unnötig süßes Beiwerk sind, der möge mir bitte persönlich eine E-Mail schreiben. Viel wahrscheinlich ist es aber, dass ihr auf den Geschmack gekommen seid und endlich von Grund auf versteht, warum das Dessert der krönende Abschluss ist.

Mehr als nur eine Nachspeise: Die Desserts von Martin Sieberer in Ischgl
5 (100%) 6 votes

Von in Tirol