Das Festival der Träume und die „Leidenschaft der Musik“: Musikalische Tagträume

Ich mag Träume nicht. Obwohl ich gerne träume und mir sicher bin, dass uns ihre oft irrationale Natur viel darüber sagt, dass unsere Gesellschaft in zu rationalen und ökonomischen Strukturen denkt. Wird aber das Träumen bei einem Festival in eine bestimmte Funktion gestellt, so befürchte ich immer schon a priori Schlimmes und vermute, dass hier die Träume ein rein kompensatorisches Moment darstellen und somit bestenfalls für den gepflegten Eskapismus nach dem Feierabend geeignet sind. Und damit bin ich auch skeptisch, wenn sich ein Festival eben „Festival der Träume“ nennt, wie es die gerade in Innsbruck stattfindende Veranstaltung tut.

Die Frage stellt sich mir jedenfalls: Was sind eigentlich Träume überhaupt? Ich bin jetzt nun wirklich kein Psychologe der sich mit Träumen befasst hat. Aber es erscheint mir plausibel zu behaupten, dass Träume der Versuch des Gehirns sind, mit dem in wachem Zustand Erlebtem umzugehen. Das Erlebte, Gesehene und Gehörte muss verarbeitet werden und es kommt zu einer Art von reinigendem Vorgang. Auch kann ich mir vorstellen, dass Träume „Orte“ sind, an denen Ängste und Sehnsüchte manifest werden.

Eine ganz besondere Funktion hat der sogenannte Klartraum, bei dem man offenbar direkt willentlich in einem Dämmerzustand zwischen Wach-Sein und schlafen eingreifen kann und den Verlauf des Traumes beeinflusse kann. Für mich nähert sich der Traum in diesem Fall an eine Art von Simulation an: Solche Träume dienen auch dazu, Handlungen zu erleben, die man so in einem Wachzustand noch nicht erlebt hat. Solche Träume können ein Form von Vorbereitung sein, eine Situation, die ist und zugleich nicht ist. Eine Situation, die man als ein „Als-Ob“ bezeichnen könnte.

Für mich rückt damit der Traum in Richtung der Literatur, die ebenfalls ein solcher Raum ist: Indem ich lese, rüste ich mich für den Alltag, für Dinge, die sich vielleicht noch ereignen werden. Ich bereite mich vor, setzte mich Ängsten und Sehnsüchten bewusst aus, um damit besser umgehen zu können, wenn ich sie selbst im Wachzustand erlebe und erfahre.

So weit so gut. Und so weit und vielleicht auch diskussionswürdig. Zum Traum und zum Träumen haben sich schließlich schon viele Menschen ihre Gedanken gemacht und haben ihre Konstrukte und Theorien über dieses Phänomen gelegt um es erklärbar und greifbar zu machen. Einfacher wird es jedenfalls, wenn man das Phänomen Traum und Träume auf die Ebene des Kulturellen und Sozialen übertragt und den Schritt aus den Köpfen der träumenden Individuen hinaus macht. Dann lässt sich die Funktion bestimmen, in welcher die Träume stehen.

Das Festival der Träume: Welche Funktion haben die Träume eigentlich?

Für die Expressionisten und vor allem für die Surrealisten war der Traum das Irrationale, Wilde, Unbeherrschbare schlechthin. Da sich ihre Kunst zum Teil radikal gegen das etablierte, rationale und vernunftgesteuerte Bürgertum wandte, war der Traum eine immense und fast unerschöpfliche Quelle des Anti-Bürgerlichen, Revolutionären. Mit der Irrationalität von Träumen lässt sich in dieser Hinsicht auch gegen die pervertierte Rationalität eines nach Ordnung, Strukturen und Vorschriften strebenden Bürgertums vorgehen. Diese beiden Kunstströmungen wollten daher auch das Irrationale, Wilde und Unkontrollierbare wieder in eine Gesellschaftlich hineintragen, die sehr auf Mäßigung, Durchschnittlichkeit und Kontrolle aus war.

Von da ausgehend kann man den Sprung ins Heute wagen. Zum „Festival der Träume“ in Innsbruck. Ich unterstelle diesem Festival nichts, da ich es (noch) zu wenig kenne. Gestern war sozusagen mein „Erstkontakt“ mit diesem Festival, genauer eigentlich mit dem Rahmenprogramm „Leidenschaft der Musik in 13 Kapitel“, das vom Tiroler Musiker Simon Kräutler kuratiert wird. Als Ort stand ihm dazu das „Spiegelzelt“ zur Verfügung, das allem einen sehr theatralischen, inszenierten Anstrich gab. Die Veranstaltungen im Spiegelzelt geben also einen Eindruck davon, was das „Festival der Träume“ bei seinen Hauptveranstaltungen bietet.

Die Gefahr, die hier jedenfalls schon spürbar war, war genau die Funktion der Kompensation, die aus meiner Sicht die Träume bei solchen Veranstaltungen oft einnehmen: Sie verkommen zum Amüsement, zur schrillen Inszenierung und zur Abendunterhaltung für Menschen, die nach einem harten Tag noch einmal ein wenig Eskapismus suchen und mit offenen Augen träumen wollen. Echte Träume hingegen gehen tief, echte Träume erschüttern und verändern die eigene Wahrnehmung.

Das Festival der Träume, die Musik und die Utopie

Träume, die nur in der Funktion des Amüsements eingesetzt werden, haben keine Nachwirkung. Sie sind temporäre Räume, die man wieder gleich verlässt, wie man sie betreten hat. Sie wirken kompensatorisch insofern, als dass sie eingesetzt werden können, um die Verhältnisse und die Gesellschaft genau so weiter funktionierten zu lassen, wie sie gerade ist. Unterhaltung und damit auch die Träume in dieser Funktion wirken stabilisierend, anstatt dass sie „Wildheit“ und Irrationalität ganz im Sinne der Surrealisten wieder Einzug halten lassen. Nun kann ich mir kein Urteil anmaßen, was das Festival der Träume betrifft. Ich gebe nur zu bedenken und rege an, solche Gedanken jeweils immer mit dem konkret Gebotenem gegenzulesen. Die Progammgestaltung scheint aber manche meiner Thesen zumindest nicht zu widerlegen.

Gestern wiederum hatte ich das Glück bei der, meiner Meinung nach mit viel Umsicht und Feingespür gestalteten, Konzertreihe von Simon Kräutler das Filippa Gojo Quartett aus Köln erleben zu dürfen. Wenige Stunde vorher hatte ich noch das Vergnügen gehabt, mit Filippa Gojo ausführlich bei einem Kaffee im Café Central über ihre Musik und ihren Zugang zur Kunst reden zu dürfen. Das Wort „träumen“ ist dabei nicht gefallen, dafür aber die Aussage, dass sie Musik emotional berühren müsse, damit sie diese auch weiterhin verfolgen würde. Andere Musik können sie faszinieren, mehr aber auch schon nicht mehr.

Am Abend wurde deutlich, wie sie das musikalisch umsetzte und vielleicht auch, warum ihre aktuelle CD mit ihrem Quartett „Nahaufnahme“ heißt. Sie ließ die HörerInnen jedenfalls sehr direkt und unmittelbar an ihrem Gefühlsleben teilhaben, verstand es aber zusammen mit ihren Band diese Gefühle in eine konzise Form zu bringen. Ihre Intonation war beeindruckend sicher, ihr Auftritt von Großer Selbstsicherheit geprägt, die es ihr erlaubte, ganz im Augenblick präsent zu sein. Ich hatte sie auch vorher gefragt, warum sie denn im Rahmen des „Festivals der Träume“ spielen würden. Abgesehen davon, dass Filippa Simon Kräutler bereits seit Jahren kennt, denn schließlich sind beide in Vorarlberg geboren und aufgewachsen. Eine konkrete Antworte darauf konnten wir nicht finden.

Hiermit liefere ich einen möglichen Grund nach: Die Musik vom Filippa Gojo Quartett, die vornehmlich aus der Feder von Filippa Gojo stammt, formuliert Träume und Utopien und öffnet somit Möglichkeitsräume. Mitten in „Rush Hour“, das den ganz normalen Arbeitswahnsinn thematisiert, platzt eine beschwingte Passage in der Gojo sich daran erinnert, dass sie als Kind eigentlich immer nur eines wollte: Fliegen können und somit eben weit über den Häusern und der Hektik des Alltages eines fiktiven Erwachsenen sein, der seine Karriere damit generiert, dass er zahllose Überstunden macht.

Auf der gleichen Ebene lassen sich die zahlreichen Einflüsse aus der sogenannten Weltmusik ansiedeln, die sich in ihrer Musik wiederfinden. Vor allem brasilianische Musik ist omnipräsent. Kein Zweifel: Hier ist eine Vorarlbergerin am Werk, die es vor mehr als 7 Jahren nach Köln verschlagen hat, die aber auch dort noch die musikalische Grenzüberschreitung sucht und sich längst nicht nur mit Musik europäischer oder amerikanischer Abstammung zufrieden gibt.

Somit ist ihre Musik ein ausformulierter und komponierter Traum: Der Traum wie es wäre, wenn es musikalische, gesellschaftliche, intellektuelle und sprachliche Barriere und Grenzen gar nicht gäbe. Die Musik von Gojo ist eine verwirklichte Gesellschaftsutopie, aufgehoben und denkbar gemacht durch musikalische Mittel. Ihre musikalischen Träume sind keine schwammige Anleitung wieder staunend durchs Leben zu gehen, sondern Anleitungen dazu, die Welt neu zu denken und sich Gedanken zu machen über Musik in ihrer Vordenker-Funktion.

Von daher behaupte ich: Das Filippa Gojo Quartett war absolut richtig beim „Festival der Träume“ in Innsbruck und hat eine überzeugende Antwort darauf gegeben, wovon sich mit dieser Musik träumen lässt. Angesichts des überragenden Konzertes vom Filippa Gojo Quartett bin ich fast geneigt zu sagen, dass die Konzertreihe von Simon Kräutler im Spiegelzelt das Potential hat, wesentlich mehr als nur ein Begleitprogramm zum „Festival der Träume“ zu sein.

Es könnten Programmpunkte sein, die überzeugendere Antworten darauf finden, was träumen wirklich bedeutet und welche Funktion Musik in dieser Hinsicht einnehmen kann: Die Funktion der temporär und ästhetisch verwirklichten Utopie, die für rund eine Stunde einen Ort findet. Dieser Ort verändert den Zuhörer und die Zuhörerin und entlässt ihn verändert und mit einem anderen Bewusstsein ausgestattet wieder in eine regnerische Nacht in Innsbruck. Das alles wäre damit möglichst weit entfernt vom Amüsement.

Das Festival der Träume und die „Leidenschaft der Musik“: Musikalische Tagträume
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Von in Tirol

  • Herbert Salzmann

    Respekt, Markus

  • Markus Stegmayr

    Danke für die Rückmeldung, Herbert. Wofür bekomme ich den Respekt?