Bibione oder Kaiserwinkl: Die Aufarbeitung eines Kindheitstraumas

Was sind wir damals alle begeistert nach Bibione, Lignano oder Jesolo gefahren. Wochenlang, vielleicht sogar einige Monate vorher haben wir uns darauf gefreut, endlich ans Meer fahren zu dürfen. Vor Ort sind wir dann Tretboot gefahren, haben Sandburgen gebaut, während unsere Eltern faul in der Sonne gelegen sind. Spätestens nach dem dritten Tag haben wir uns gelangweilt, obwohl sich Kinder ja anscheinend nie langweilen. Sehr schnell hat auch der Sand im Bett genervt und die Hitze in den Appartements war auch manchmal kaum zu ertragen. Heute kann mir Bibione & Co. gestohlen bleiben. Und heute habe ich auch endlich die Kraft, mit dieser Art von Urlaub abzurechnen. Und eine Lanze für den Kaiserwinkl zu brechen.

Mittlerweile, gut 30 Jahre später, kann ich schon allein diese Urlaubskataloge nicht mehr sehen. Mich überkommt das kalte Grauen wenn ich die Bilder der dortigen Appartements sehen, die eigentlich alle gleich aussehen. Ebenso wie die Orte, in denen diese stehen. Orte, die eigentlich nur im Sommer so etwas wie Leben anzubieten haben, während sie nach der Saison zurücksinken in die absoluten Bedeutungslosigkeit und zu einer Art Geisterstadt werden. Orte, in denen ein großer Teil der Gebäude nur dazu gebaut zu sein scheint, um Touristen im Sommer zu „bespaßen“ und zu beherbergen.

Und natürlich ist man dort überall kinderfreundlich, was ja beim besten Willen kein Wunder ist. Schließlich ist die Kaufkraft von Kindern niemals größer als im Urlaub. Versucht doch einfach mal eure Kinder durch die Einkaufsstraße zu lotsen, OHNE spätestens nach dem vierten Geschäft etwas kaufen zu müssen. Kindern haben manchmal auch die Eigenschaft, penetrant nerven und quengeln zu können. Zumindest dann, wenn sie von allen Ecken und Enden dauerbeschallt und dauerversucht werden. Wer nicht konsumiert, verliert. Und der hat den Sinn des Urlaubs eigentlich nicht verstanden. Für mich scheinen diese Einkaufsstraßen in den erwähnten Tourismusorten jedenfalls genau diese Sprache zu sprechen.

Von „Indianern“ und Hitze, oder: Warum nicht gleich der Kaiserwinkl?

Dass an jeder Ecke ein vermeintlicher „Indianer“ lauert und zum Halbplayback auf seiner Panflöte „My Heart will go on“ spielt macht die Sache für Eltern leider auch nicht erträglicher. Vor allem dann, wenn man mit Kindern natürlich mindestens 10 Minuten vor diesem musikalischen Wahnsinn stehen bleiben muss.

Außerdem: Immer diese Hitze! Immer diese Pizzen und diese Nudeln. Immer dieser Sand im Bett. Immer dieser Strand an dem man letztlich nichts anderes tun kann, als rumzuliegen. Und wer sich traut was anderes zu unternehmen als nur dumm am Strand herumzuliegen, der wird gnadenlos bestraft, etwa mit völlig überhöhten Preisen bei der einen oder anderen „Attraktion“. Kurzum: Mein Kindheitstrauma in Sachen Bibione & Co. war ganz einfach nicht zu beseitigen und reichte weit hinein in mein Erwachsenenleben.

Ich hatte es ernsthaft versucht und war auch schon in meiner Rolle als Familienvater mit Frau und Kindern an eben besagtem Ort. Aber es funktionierte nicht. Meine Erinnerung und meine Ablehnung waren zu stark. Bibione war mir für immer verdorben und durch meine Erinnerungen unmöglich gemacht worden. Der Geschmack, den viele noch in ihrer Erinnerung auf der Zunge hatten, war für mich schal, fast schon unerträglich. Pizza schmeckte für mich nicht nach Sommer und Sonne, sondern nach Langeweile pur. Die Frage, ob ich mich auch schon als Kind dort gelangweilt hatte oder ob ich diese Behauptung auf meine konstruierte Erinnerung an damals projiziere ist dabei natürlich diffizil. Ich bin aber fast sicher, dass mir das ganze dort auch damals schon zu wider war. Schließlich war ich damals auch schon ich.

Was also tun? Ich musste einen anderen Ort finden, der mich nicht aufregte und der nicht so erinnerungsbeladen war. Ich wurde zum Glück schnell fündig: Der Walchsee und der Kaiserwinkl ganz generell waren Orten, die mich schon in meiner Kindheit glücklich gemacht hatten. Ich war ja ganz in der Nähe aufgewachsen. Der Kaiserwinkl, das war für mich ein Ort des naiven, unbeschwerten Kind-Seins. Eigentlich hätte ich damals Bibione & Co. auch schon nicht gebraucht. Ein Tag am Walchsee im Kaiserwinkl und ich war glücklich gewesen.

Damals war es aber plötzlich trendig geworden, nach Bibione oder Jesolo zu fahren. Zumindest in gewissen Gesellschaftsschichten. Ich war also ein früher Opfer eines absoluten sinnlosen Trends geworden, in die vermeintliche Ferne zu schweifen, während das gute doch so nah lag. Das musste rückgängig gemacht werden. Ich musste es besser und anders machen.

Ich musste meine Kinder vor einem falsch verstandenen Begriff von Urlaub schützen. Sie sollen einen Ort und eine Region kennen lernen, die nicht so verlogen, konsum- und umsatzgeil wie Bibione & Co. waren. Das war meine Hoffnung und meine einzige Möglichkeit, mein Kindheitstrauma aufzuarbeiten und loszuwerden. Ich würde es versuchen. Demächst. Im Kaiserwinkl.

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Von in Tirol