Ein archaisches Ritual: Die Widderprozession im Virgental

Immer wieder hatte ich in den letzten Jahren von einer archaischen Prozession mit einem Widder in Osttirol gehört, bei der ein riesiger, mit bunten Bändern geschmückter Widder die Hauptrolle einer kirchlichen Handlung spiele. Immer wieder nahm ich mir vor, diesen uralten Brauch einmal persönlich zu beobachten. Heuer war‘s soweit. Ich machte mich am ersten Wochenende nach Ostern ins Virgental, genauer nach Virgen und Prägraten auf.

Im hinteren Teil des Virgentales angekommen musste ich feststellen: Prägraten gibt‘s irgendwie gar nicht. Es gibt nur fünf sogenannte Fraktionen: St. Andrä, Wallhorn, Hinterbichl, Bobojach und Bichl. Die Summe der Mini-Siedlungen ergibt dann quasi Prägraten. Was die Wahl des Gasthauses anlangt war die Sache allerdings klarer: Da wurde mir von meinen Osttiroler Freunden ohne zu zögern ,der Islitzer‘ in Hinterbichl empfohlen, ein alteingesessenes und allseits bekanntes Haus. Eine hervorragende Wahl, wie sich herausstellte.

Das Wochenende nach Ostern ist ja nicht wirklich ein Saisonhöhepunkt, und so versammelten sich am Stammtisch des Islitzer einige Einheimische. Und die konnte ich auch gleich zur bevorstehenden Widderprozession befragen. Ich hatte zudem das Glück, dass mit Ludwig Berger der Seniorchef des Islitzers am Tisch saß und mir bereitwillig Auskunft erteilte.

Der Brauch des Opferwidders geht demnach auf ein Gelöbnis der Bevölkerung von Virgen und Prägraten zurück. Diese gelobten 1635 aufgrund einer verheerenden Pestepidemie auf ewig, jährlich einen Widder zu opfern. Das bedeutete damals eine finanzielle Zäsur. Drei Jahrhunderte lang führte die

Wallfahrt dann vom Virgental über Lienz nach Lavant zu zwei Gnadenbildern der Heiligen Maria. Eine 2-Tage-Veranstaltung sozusagen. „Aber“, so Ludwig Berger, „die Zielkirche dieser Wallfahrt wurde schlussendlich und vor allem aus moralischen Gründen 1920 nach Obermauern verlegt.“ Der Gründe dürfte es mehrere gegeben haben. Pilgerin und Pilgersmann ruhten meist in Heuschobern, was ein menschliches Näherkommen der Geschlechter ohne Zweifel förderte. Andererseits ist der Spruch überliefert: „Beim Hinuntergeh‘n heilig heilig, beim Zurückgeh‘n rauschig, rauschig.“

Auch deshalb führte auch die heurige Wallfahrt am ,Weißen Samstag‘ wieder zur malerischen Wallfahrtskirche Maria Schnee nach Obermauern. Die Prozessionen aus Prägraten und Virgen vereinigen sich am Fuß der Kirche. Die letzten Meter hinauf zum gotischen Gotteshaus werden gemeinsam zurückgelegt. Der Widder läuft selbstverständlich an der Spitze.

Der heurige Opferwidder wird von der Virgener Fraktion Mellitz zur Verfügung gestellt. Und das heißt gar nicht wenig. Denn das Tier wird eigens gehalten und gepflegt. Zwei Schuren, jene im Frühjahr und im Herbst, werden beim Widder nicht gemacht. So sind seine Haare

rund 1/2 m lang, und das sogenannte Vlies bleibt ob der Pflege blütenweiß. Geschmückt wird das Tier mit allerlei Blumen, die in Bändern im Vlies befestigt waren. Ich hatte das Gefühl, der prächtige Widder sei so richtig stolz auf sein Aussehen. Und zahm war er auch noch, zahm sogar wie ein sprichwörtliches Lamm.

Was dann folgt ist doch einigermaßen überraschend: Der Widder wird von seinem Halter in die Kirche geführt und umrundet den Altar unter den Gebeten der Gläubigen drei Mal. Erst dann ist der Pfarrer an der Reihe, um die Heilige Messe zu feiern. Das Tier verfolgt die kultische Handlung anschließend allerdings gemeinsam mit seinem Halter vor der Kirche aus.

Das eigentliche ,Opfer‘ folgt nach der Messe. Da wird der prächtige Widder nämlich im Zuge einer Tombola verlost. Die Fraktion Mellitz pflegte, schmückte und opferte heuer den Widder.

Schon Wochen vor der Widderprozession kann die Bevölkerung aus Virgen und Prägraten Lose kaufen, mit denen Lebensmittel, Geschirr und ähnliches gewonnen werden können. Und eben auch ein ausgewachsener Widder. Der Reinerlös dieser Verlosung kommt der Renovierung der Wallfahrtskirche Maria Schnee zugute.

Etwas hat sich offenbar im Gegensatz zu früher verändert: während sich Ludwig Berger noch erinnern kann, dass der Widder-Halter nach der Wallfahrt das Recht hatte, in jedem Haus eine Schale Getreide zu erbitten, wird die Aufzucht und Pflege heute sozusagen kostenlos gemacht. Aber die Zeiten haben sich ja auch ziemlich geändert.

Und was den Widder anlangt: der überlebt die Wallfahrt. Denn meist wird er weiter verkauft oder noch zu Zuchtzwecken verwendet.

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Von in Tirol