Zum Teufel mit der Natur! Her mit der Kultur!

Eine mögliche These: Die Natur wird hoffnungslos überschätzt. Schön ist sie ja schon anzusehen. Und Berge sind natürlich auch nicht grundsätzlich schlecht. Dem Wandern und dem Skifahren sei Dank. Ich möchte hier aber eine Lanze für die Kultur brechen. Denn erst diese macht alles so richtig interessant.

Nein, ich meine jetzt nicht die organisch gewachsene Kultur, die mehr oder weniger geschickt mit Traditionen umgeht und die Jahr für Jahr Leute aus dem In- und Ausland anlocken soll mit der Aussage, wie authentisch doch alles bei uns in Tirol ist. Und wie sehr wir unsere Traditionen und Eigenarten bewahrt haben, weil bei uns in Tirol halt die Tradition und die Geschichte noch ernst genommen werden.

Herauskommen tun dabei aber ohnehin meist nur irgendwelche obskuren Veranstaltungen, bei denen die Kühe wöchentlich von der Alm abgetrieben werden, verbunden mit ganz viel „Humpta-Musik“ und natürlich dem obligatorischen Besäufnis.

Kultur in Tirol: Es geht auch mehr und es geht auch anders!

Wenn das dann Kultur ist, dann bin ich der Kaiser von China. Kultur darf nicht der inszenierte Anziehungspunkt für möglichst viele Touristen sein. Kultur darf nicht glatt und oberflächlich sein. Wirklich interessante Kultur konfrontiert Touristen auch mit schwierigen Themen, die nicht immer schön sind. Da wird auch mal die Musik zu einem freitonalen Gewitter, das nicht unbedingt mit einem Wohlfühl-Urlaub ohne Dissonanzen kompatibel ist.

Dem normalen Touristen wird lediglich zugetraut, dass er sich hin und wieder auf ein Platzkonzert im Dorf verirrt, um dort den Eigenarten und den musikalischen Traditionen der heimischen Bevölkerung näherzukommen. Dort darf er staunen, wie ursprünglich, authentisch und freundlich die Dorfbewohner und die Einheimischen doch sind. So ganz anders als zu Hause! Dass dabei vielleicht ein paar Funken Unehrlichkeit und Theater mitspielen darf der durchschnittliche Tourist natürlich nicht merken. Das könnte uns schließlich Gäste kosten.

Die Touristen sollen ein bisschen unsere Kultur und unserer Geschichte nachspüren, dann viel Geld in schönen Hotels liegen lassen, sich ein wenig Wellness gönnen und natürlich fleißig auf unsere Berge klettern, damit sie dann auf den Hütten authentisches und echtes Essen aus der Region genießen können. Wie gut es bei uns in Tirol doch schmeckt! So ganz anders als zu Hause, wo alles meist ganz schnell gehen muss. Gut schmeckt es. Ehrlich, hausgemacht, bodenständig. Und dann erst noch die Natur. So schön und so naturbelassen!

Kultur in Tirol: Die Gegenwart ist den Menschen zumutbar!

Ich jedenfalls behaupte: Die pure Vielfältigkeit der Gegenwart ist den Menschen und somit auch den Touristen in Tirol zumutbar. Zeitgenössische Musik ist den Menschen zumutbar, die auch mal radikal mit den Traditionen der Region bricht und zeigt, dass Tirol so urban sein kann wie Berlin oder andere Städte. Die Klangspuren sind zum Beispiel ein Beweis dafür, dass Tirol auch mehr kann als „nur“ Volksmusik und Schlager. Auch solche „Traditionen“ haben in Tirol ihre Heimat und auch solche Traditionen wie die „Neue Musik“ sind in Tirol mehr oder weniger organisch gewachsen.

Zahlreiche Ensembles belegen diese Beheimatung in Tirol. Leider, vor allem für Touristen, meist unter der Wahrnehmungsschwelle. Warum geht man mit dieser Vielfalt in Tirol nicht offensiv um und setzt stattdessen auf Natur, Schönheit und Tradition. Persönlich verstehe ich das nicht. Und finde es auch nicht sonderlich zukunftsträchtig oder gar visionär.

In Tirol: Zuerst zu den Klangspuren – dann ins Zillertal!

Wie schön wäre es doch den Klangspuren-Besucher verstärkt in Tirol zu haben, der die ob der Intensität oftmals fast schon als spirituell zu bezeichnenden Erfahrungen bei einem Konzert in der Natur und auf den Bergen bei einer ausgiebigen Wanderung nachwirken lässt. Denn die Natur eignet sich nicht nur dazu, Traditionen und Standpunkte aus ihr abzuleiten, dass alles schon immer so war und auch in Zukunft so bleiben muss, sondern eben auch als ein fast schon meditativer Raum, der sich in ein anderes Verhältnis zur Kultur setzen lässt. Nicht mehr als Widerspruch, sondern komplementär.

Die intensive Konzerterfahrung im Konzertsaal fordert die Ruhe und Bedächtigkeit in der Natur. Tirol kann eben beides. Und ihr merkt schon, dass ich meine Überschrift revidieren muss. Nur weil die Kultur und der Kulturgenuss avancierter, komplexer und vielfältiger sein könnte als er momentan von offizieller Stelle kommuniziert wird, heißt das noch lange nicht, dass wir die Natur nicht mehr brauchen.

Wir müssen sie nur anders verwenden und den Touristen auch anders „verkaufen“. Die Natur ist nicht nur schön. Sondern manchmal auch ruppig und rau. Eben ganz wie die Kultur in Tirol es auch sein kann. Rein mit Wohlklang, Schönheit und Tradition kommen wir nicht weiter.

Wie gut jedenfalls, dass die Klangspuren ihren Sitz in Schwaz haben. Der Bezirk bekanntlich, zu dem auch das Zillertal gehört. Ein wirklich schönes Fleckchen Erde. Ich jedenfalls freue mich auf das eine oder andere Konzert bei den Klangspuren und auf die eine oder andere Wanderung im Zillertal. Auch gut essen und übernachten soll man da ja können. Alles ein wenig traditionell und doch sehr bodenständig.

Aber das ist ja gerade das Schöne: Das eine muss das andere nicht ausschließen. Zeitgenössische Musik trifft traditionelle Hausmannskost im Zillertal. In Tirol machbar. Traurig wäre es für mich nur, wenn es „nur“ die Traditionen und die Schönheit der Natur gäbe. Zum Glück ist man in Tirol weit davon entfernt, dass das so wäre. Es lebe die Vielfalt. Es lebe die Geschichte. Es lebe die Natur und es lebe natürlich auch die zeitgenössische Musik und Kultur! Tirol kann mehr, als man auf den ersten Blick wahrnimmt. Und ein zweiter Blick auf Tirol versöhnt dann doch. Irgendwie.

Zum Teufel mit der Natur! Her mit der Kultur!
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Von in Waldfriede