Zivilisierte Wildnis in Bayern oder das Ende des Adlers

Ich liebe die Natur. Nein. Ich liebe die zivilisierte Wildnis. Was das sein soll? Ich komme gleich dazu. Eigentlich wollte ich heute ja keinen Text schreiben, sondern mir eine Pause gönnen. Einfach mal entspannen. Den Kopf freibekommen. Mich bewegen. Frische Luft und wärmende Sonnenstrahlen genießen und diese abspeichern. So fest speichern, dass die Kraft für die kommenden, arbeitsreichen Wochen auch wirklich ausreicht. Doch es kommt im Leben ja ohnehin nie so wie man es sich ausrechnet und plant. Deshalb sitze ich nun wieder in der Küche, am großen Esstisch. Rund um mich wird gewerkt, gerollt, geklopft und gebraten. (Es gibt gleich Rindsrouladen) Es ist laut. Angeregte Gespräche. Doch all das interessiert mich gerade nicht. Im Kopf bin ich noch immer beim soeben Erlebten – das ich sogleich niedergeschrieben haben will.

Ja ich liebe die zivilisierte Wildnis. Damit meine ich jene Natur, die der gutbürgerliche, durchschnittliche Städter so schätzt, wenn er seine modern und kühl eingerichtete Wohnung verlässt und ausbricht aus dem Alltag – rein in die Wildnis, raus in die Freiheit. Doch so richtig weit kommen wir dabei meist nie. Das Ziel ist nur im seltensten Fall die Abgeschiedenheit, die vollkommene Ruhe, das Einlassen auf die Umgebung und die Kraft der Natur. Meist ist eine Hütte das Ziel. Wo dann fein zubereitete Knödel aller Art und industriell erzeugtes Weißbier konsumiert werden. Mit wirklichem Naturerlebnis hat all das nur wenig zu tun. Zivilisierte Wildnis eben. Ein wenig Theater, ein wenig Disneyland – nur ein bisschen Natur, nicht zu viel und immer in dem Gewissen, dass um die nächste Kurve ohnehin schon der große Touristen-Parkplatz wartet.

Ich habe mir heute auch eine ordentliche Portion zivilisierter Wildnis gegönnt. Raus aus dem Bett. Rein in meine Laufschuhe und meine Jacke. So wie immer, wenn ich (mindestens!) dreißig Minuten lang die Natur genieße. Die ersten 500 Meter bin ich noch gejoggt. Von einem kleinen bayrischen Ort zum anderen. Das hier gelegene Moorgebiet lässt mich immer ein wenig von Alaska träumen. Feucht Luft. Hüfthohe Gräser die im Rhythmus des Westwindes tanzen. Vereinzelte Nadelbäume die irgendwie verloren mitten in der Wiese stehen. Ab und an kreuzt ein kleiner Bach den Weg und verschwindet scheinbar im Nirgendwo. Sanfte, bis oben grüne Berge umrahmen die Kulisse. Saftiges Grün wohin das Auge reicht. Ja ein Ort an dem der Alltag weit weg erscheint. Nur das stetige, dunkle Brummen irritiert ein wenig. Daran sind nicht etwa unzählige Hummeln und Bienen schuld, sondern die gut gepflegten Vehikel der bayrischen Sonntagsausflügler. Schon witzig, wenn man gerade verträumt auf den Bach blickt, wo das Wasser tanzt, sich gelbe, goldene und türkise Ströme vereinigen und Forellen schwerelos darin schweben und dann plötzlich wachgerüttelt wird – von den quietschenden Reifen eines schnell beschleunigenden, silbernen Mercedes. Naja. Immerhin kurz war ich ganz weit draußen. Inmitten der Wildnis.

Heute habe ich viel nachgedacht. Über das gestrige Spiel zwischen England und Italien. Über das ukrainische Militärflugzeug das von russischen Separatisten abgeschossen wurde. Kurz habe ich mich sogar gefragt, ob nicht zufällig gerade wieder ein Braunbär durch die bayrischen Wälder stapft und ich ihm vielleicht begegnen würde. Doch am meisten hat mich heute meine Jacke beschäftigt. Meine heißgeliebte, rote Salewa-Jacke. Eine der letzten ihrer Art. Erst vergangene Woche hat mir nämlich ein befreundeter Sportartikel-Händler, bei dem ich die Jacke damals gekauft habe, vom letzten Salewa-Meeting erzählt. Regelmäßig treffen sich dort Händler und Salewa-Mitarbeiter und besprechen die neuesten Entwicklungen, Technologien, Farben und natürlich auch die aktuelle Kollektion. 2014 – ein Schock!

Meine Jacke begleitet mich – wie bereits erwähnt – auf so gut wie jeder Wildnis-Erkundung. Sie ist für mich ein treuer Weggefährte, mit dem mich eine enge Beziehung verbindet. Wir stehen uns ja auch sehr nahe. Fast Haut an Haut. Auch wenn ich oft alleine durch die Wälder streife (selten laufe), die Jacke war immer mit dabei. Und jetzt? Irgendwelche Marketing-Experten haben sich Salewa geschnappt und einen – so called – Marken-Relaunch inklusive Logo-Änderung durchgeführt. Mit dem Ergebnis, dass mein heißgeliebter Salewa-Alder aus dem Blickfeld verschwinden soll. Aus dem anmutigen Tier wird eine komische, unförmige graphische Form die mich an meine ersten Versuche im Photoshop erinnert. Nein, ich kann es nicht glauben. Unter dem Vorwand verstärkt Design, Innovation, Passion und Reliability im Bergsport verkörpern zu wollen, haben sie doch einfach meinen Adler geopfert. Jenen Adler der – wie kaum ein anderes Symbol – für das Erlebnis der zivilisierten Wildnis stand. Mit ihm durften wir uns wie große Forscher, Abenteurer und Bergsteiger fühlen. Auf unserer eigenen Expedition durch die rauen Wiesen und Wälder Bayerns, Tirols und Südtirols.

Eine Ära ist vorüber. Ähnlich ernüchternd wie jener Augeblick, als ich ans Ende des oben beschriebenen Baches kam – der anfangs noch so wild und ursprünglich erschien, als sei er direkt in Alaska entsprungen. Doch egal woher er auch kam. Er endete in einem kleinen Stausee, eingesperrt in meterdicke Betonmauern, kurz vor einer stillgelegten Mühle – die heute ein typisches bayrisches Ausflugswirtshaus ist. (Biergarten-Romantik, Maßkrug-Unisnn und fettige Schweine-Stelzen inklusive) Zivilisierte Wildnis eben!

Zivilisierte Wildnis in Bayern oder das Ende des Adlers
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Von in Sport Brugger